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Gaius Valerius Catullus
Catull's Feder

Carmen 3 - Vivamus, mea Lesbia, atque amemus

Hier wird Catulls "Carmen 3" mit Vokabelhilfen, Übersetzung, Versmaß & Stilmittel und Interpretation zur Verfügung gestellt.




I. Lateinischer Text

Lugete, o Veneres Cupidinesque
et quantum est hominum venustiorum !

Passer mortuus est meae puellae,
passer, deliciae meae puellae,
quem plus illa oculis suis amabat.
Nam mellitus erat suamque norat
ipsam tam bene quam puella matrem,
nec sese a gremio illius movebat,
sed circumsilens modo huc, modo illuc
ad solam dominam usque pipiabat.

Qui nunc it per iter tenebricosum
illuc, unde negant redire quemquam.
At vobis male sit, malae tenebrae
Orci, quae omnia bella devoratis.
Tam bellum mihi passerem abstulistis.
O factum male! O miselle passer!

Tua nun opera meae puellae
flendo turgiduli rubent ocelli.


Sacherklärungen

1. 'Veneres Cupidinesque'.
Damit sind die verschiedenen römischen Gottheiten der Liebe und des Verlangens gemeint (Venus = Göttin der Liebe).

2. 'Passer'. Passer bedeutet im Lateinischen zum einen Spatz bzw.
Sperling, zum anderen übernimmt das Wort jedoch auch die symbolische Bedeutung des ,stroutuos' aus
der griechischen Epigrammatik, kann also auch das männliche Glied bezeichnen.

3. 'Orcus'. Orcus bezeichnet die Unterwelt, das Reich der Toten.




II. Übersetzung

(Text aufdecken / Text zudecken)

Trauert, oh Götter der Liebe
und all ihr liebenden Menschen!

Der Sperling meines Mädchens ist gestorben,
der Liebling meines Mädchens,
den jene mehr als ihre eigenen Augen liebte.
Denn er war so süß wie Honig und
kannte sie so gut, wie ein Mädchen die Mutter.
Und er bewegte sich nicht aus ihrem Schoß,
sondern piepte immerfort zu seiner Herrin,
während er bald hierhin, bald dorthin hüpfte.

Dieser geht nun auf dem finsteren Weg dorthin,
von wo niemand zurückkehrt.
Euch soll es schlecht ergehen, ihr bösen Schatten
der Unterwelt, die ihr alles Schöne verschlingt!
Ihr habt mir den so schönen Sperling genommen!
Oh welch Grausamkeit!
Oh unglücklicher Sperling!

Durch deine Schuld
sind die Augen meines Mädchens vom Weinen rot geschwollen.




III. Versmaß und Stilmittel

Das Versmaß ist ein Hendekasyllabus, ein phaläzäischer Elfsilbler.

Passer mortuus est meae puellae / Passer deliciae meae puellae → Anapher, Parallelismus
modo huc, modo illuc → Anapher
O factum male, o miselle passer → Anapher, Parallelismus




IV. Interpretation

In Catulls Gedicht steht der 'Passer' zweifelsfrei im Mittelpunkt der Handlung.

Der Schwerpunkt der Interpretation verschiebt sich allerdings mit den verschiedenen Bedeutungen des Wortes,
wie schon in den Sacherklärungen erwähnt, und außerdem könnte das Wort 'passer' auch als Synonym
für zum Beispiel eine Liebesbeziehung von Catull zu einem Mädchen oder aber für Catulls dichterische Begabung sein.

So könnte 'passer' natürlich mit dem männlichen Glied übersetzt werden.
Das würde inhaltlich auf eine Impotenz von Catull führen.
Einen Anhaltspunkt hierfür bietet die Zeile 8, in der Catull eine Verbindung zwischen dem 'passer' und Lesbias Schoß herstellt. Außerdem betrauert Catull in Zeile 15
explizit den Verlust seines 'Sperlings'.

Allerdings könnte der 'Sperling' auch für eine gescheiterte Liebesbeziehung von Catull stehen.
Ein Hinweis darauf könnte die Tatsache bilden,
dass Catull die Götter der Liebe und des Verlangen gleich in der ersten Zeile direkt anspricht und zur Trauer aufruft.
Auch wird im Gedicht sehr deutlich, dass Catull sein Mädchen sehr geliebt hat,
so spricht er von ihr als der Herrin des 'passers'. Allerdings scheint sie ihn auch ein Stück weit geliebt zu haben,
denn Catull beschuldigt in den beiden letzten Zeilen wohl die Götter, sein Mädchen unglücklich gemacht zu haben.
Vielleicht scheiterte ihre Liebe durch ein göttliches Schicksal, möglicherweise durch eine Impotenz des Catull.


Gliederung

Im ersten teil spricht Catull Götter und Menschen direkt an und fordert sie zur Trauer auf, ohne aber den Grund zu nennen.

Im zweiten Teil nennt er den Grund der Trauer (der 'passer' ist tot) und erzählt aus der Vergangenheit.

Im dritten Teil spricht Catull davon, dass der 'passer' ins Totenreich geht und greift das Totenreich auch direkt an.

Im vierten Teil wird der 'passer' dann noch einmal direkt angesprochen und für die Trauer des Mädchens verantwortlich gemacht.